Es war ein großartiger Trip – herausfordernd, überraschend und tief berührend. Mein Geschenk an mich selbst zum 60. Geburtstag. Und, wie sich herausgestellt hat: eine ziemlich gute Wahl.
Eine wilde, beeindruckende Landschaft. Eine Gruppe, wie man sie sich nur wünschen kann. Und mit Minna und Kimmo Guides, die uns mit Ruhe, Klarheit und wachem Blick durch Eis, Matsch und polarbärverdächtiges Terrain geführt haben.
Jeden Abend fragt Kimmo in die Runde: „Na, wie würdet ihr den Tag bewerten – auf einer Skala von 1 bis 10?“ Meine Antwort? Ein lautes, klares, überzeugtes: Elf.
Wenn ich an Pyramiden denke, denke ich zuerst an: die Kantine. Kein Scherz. Dieser Ort ist wie eingefroren in der Zeit. Tabletts, Gläser, Salzstreuer, Blumendeko – alles steht noch da, als wäre man nur kurz in der Pause. Nur dass diese Pause 1998 begann. Und keiner kam zurück.
Mit unserer russischen Guide streifen wir durch die Gebäude der Stadt. Jedes erzählt Geschichten. Man muss nichts rekonstruieren – man sieht sie einfach. Und plötzlich ist man mittendrin: in einer Welt, die es nicht mehr gibt, aber noch da ist. Es ist ein gespenstisch faszinierendes Stillleben in Stadtgröße.
Formulare auf den Schreibtischen, Stempel in Schubladen, Uhren an den Wänden, Kochtöpfe auf dem Herd, bunte Mosaike in Fluren und Speisesaal, Kinderbettchen mit Bettwäsche. Man wandert durch die Räume wie durch ein eingefrorenes Leben – und kann einfach nicht aufhören zu schauen, zu staunen, zu entdecken.
Eine sowjetische Modellstadt am Ende der Welt
Pyramiden war kein einfaches Bergarbeiterdorf. Es war ein Prestigeprojekt. Wer hier lebte, gehörte dazu. Es gab alles: Schule, Kindergarten, Kulturhaus, Krankenhaus, Kino, eine Sporthalle mit Schwimmbecken (!), Sauna – und natürlich: die Kantine für ein halbes Dorf. Massiv, funktional, durchdacht. Und jetzt: verlassen. Verstummt.
Pyramiden gehört auf meine Liste der schrägsten, eindrucksvollsten, merkwürdigsten Orte, die ich je besucht habe. Zwischen Retro-Charme, stiller Melancholie und einem leisen Frösteln – ein Ort, der bleibt. Unter der Haut.
Hier geht es zur Kantine EssensausgabeAufgang zur Kantine – mit beheizten HandläufenKochtöpfe für 1000
Der Plan für heute? Eigentlich ganz einfach – und ziemlich perfekt:
Ankunft in Pyramiden
„Wir haben es geschafft!“-Bierchen an der legendären Hotelbar
Einchecken in die Zivilisation – mit Dusche, echtem Bett und allem, was dazu gehört (Pyramiden hat ein Hotel, wohlgemerkt – ein richtiges Hotel, wie Kimmo betont)
Eine Umgebungstour mit Kimmo und Minna (Achtung: ohne Gewehr geht hier gar nichts – a) Küste, b) Gletscher, c) Eisbären finden beides super)
Abendessen – mit weiterem Bier (das russische Bier ist erstaunlich schmackhaft!)
Und morgen dann: Stadtrundgang mit russischer Guide
Soweit der Plan. Klingt gut, oder? Tja – und dann kam Sergej, unser Bootsmann. Der steht plötzlich da und sagt: „Wenn ihr heute nicht zurück nach Longyearbyen fahrt, dann gar nicht. Morgen Sturm.“
Tja. So schnell kann’s gehen. Also Notfallmodus. Und zum Glück gibt’s Minna. Minna, unsere taffe, pragmatische Retterin. Sie organisiert in Windeseile die für morgen geplante Tour auf heute vor, schmeißt den Zeitplan um, wirbelt durch die Geisterstadt – und findet am Ende sogar noch Hotelzimmer im fast ausgebuchten Longyearbyen. Und das mit dem Bier, der Dusche und dem Abendessen haben wir trotzdem abgehakt.
Der letzte Wandertag – und er beginnt mit einem fast schon verdächtigen Versprechen: „Das wird die einfachste Etappe.“ Angeblich gibt es sogar Wege. Also richtige Wege. Oha!
Ich fasse einen Plan: Wenn ich heute ein Rentiergeweih finde, nehme ich es mit. Punkt. Susanne trägt ihres schon seit vier Tagen mit stoischer Eleganz durch die Wildnis – ein imposantes Accessoire zwischen Outdoor-Kunstobjekt und natürlicher Trophäe. Meins wird vielleicht etwas bescheidener ausfallen – denn ich nehme, was ich heute finde. Und, Minna sei Dank, ist es auch ein schönes. 🙂
Kleiner Wildnis-Fact am Rande: Nur Geweihe ohne Schädelknochen darf man mitnehmen – sonst hängt da – laut norwegischer Interpretation – noch ein Tier dran. Und das wäre dann eher… ungünstig.
Auch das Wetter meint es gut mit uns: Sonnenschein, milde Luft, blühende Täler – es riecht nach Moos, Leben, Abenteuer und auch ein bisschen nach Abschied. Ein rundum schöner letzter Wandertag – einer, der nicht an den Kräften, sondern am Herz zieht.
Und dann: Pyramiden. Die Ankunft ist… schwer zu beschreiben. Spektakulär? Nicht ganz. Surreal trifft es besser. Wie ein Filmset ohne Film. Aber dazu mehr – in meinem nächsten Beitrag.
Unser letzter gemeinsamer WandertagMit Wegen? PäuschenHa!Das sind die mit Tier dran.Rückblick auf den TorfjelletZielgrade – eigentlich war es ohne Wege auch sehr nett.
Endlich! Die gute Nachricht gleich am Morgen: Heute reicht der Tagesrucksack. Der große Kram bleibt brav beim Zelt – da kommt eh keiner hin außer ein paar Rentieren mit gutem Riecher für Outdoor-Müsli. Fast schon Wellness.
Unser Ziel: der Torfjellet. Klingt nett, ist aber ein ernstzunehmender Brocken. Der Aufstieg? Steil. Felsig. Aber hey, die Steine haben erstaunlich guten Grip – man kraxelt hoch, vorsichtig, Step bei Step, wie eine in die Jahre gekommen Bergziege.
Auf dem Weg nach oben zeigt sich Pyramiden – unser nächstes Ziel – zum ersten Mal. Nur zehn Kilometer Luftlinie entfernt, gefühlt zum Greifen nah.
Aber der eigentliche Wow-Moment kommt auf einer Hochebene kurz vor dem Gipfel: ein 300-Grad-Rundumblick über Spitzbergen. Berge, Gletscher, Weite, Einsamkeit – ein Panorama, das gleichzeitig laut und still ist.
Ganz bis ganz oben schaffen wir es nicht – zu viel Eis, zu viel Schnee, zu wenig Lust auf unfreiwilliges Rutschen. Aber ehrlich gesagt: das Gefühl, ganz oben zu sein, ist trotzdem, da.
Während meine Knie sich mental auf den Rückweg über den steilen Hang vorbereiten, kommt Kimmo mit der rettenden Info: „Wir nehmen einen anderen Weg runter.“ Danke, Kimmo!
Was folgt, ist nicht nur ein leichter Abstieg, sondern auch eine weitere Belohnung in Form von spektakulären Wasserfällen. Wild, laut, wunderschön – der perfekte Abschluss für einen perfekten Wandertag.
Kaum habe ich mich mit Matsch, Kälte und müden Beinen arrangiert, entfaltet das Wildnisleben seinen ganz eigenen Charme. Und siehe da: Aus dem frierenden, muffelnden Wildnisgreenhorn wird eine halbwegs funktionierende Lagerbewohnerin – mit überraschender Begeisterung für nächtliche Patrouillen, Wasserbeutel und Schaufelkommunikation.
Learning #1: Wasser ist der Beginn von allem.
Der Tag beginnt mit Wasserkochen: für Kaffee (lebensnotwendig), fürs Essen, fürs Wandern. Es gibt geniale Stoff-Wasserbeutel (Marke zensiert, um Influencerstatus zu vermeiden), mit denen wir das frische Nass holen. Aber die Quelle ist meist nicht um die Ecke.
Learning #2: Tarps sind die Wohnzimmer der Wildnis.
Ein Tarp ist nicht nur ein Stück Stoff – es ist Küche, Wohnzimmer, Gemeinschaftsraum und Eisbärenwache-Unterschlupf in einem. Ohne geht gar nichts. Die Wanderstöcke, eigentlich zum Gehen gedacht, dienen hier plötzlich als tragende Säulen der Outdoor-Architektur. MacGyver wäre stolz.
Learning #3: Das stille Örtchen – ganz großes Kino
Über die Wildnis-Toilette wird ja gerne geschwiegen. Dabei ist es essentiell, also: Man suche einen abgelegenen Ort, buddele ein Loch, platziere flache Steine rundherum für den Hock-Komfort und voilà – willkommen im Natur-WC.
Das Wichtigste: die Schaufel. Sie ist nicht nur Werkzeug, sondern auch Kommunikationsmittel. Aufrecht in den Boden gesteckt = frei. Flach hingelegt = besetzt. (Und ja, die Schaufel musste immer mitgenommen werden. Immer. Zum Glück im rotierenden Dienst.)
Learning #4. Bärenwache, mein Zen-Moment
Vier Schichten à zwei Stunden: 23–1 Uhr, 1–3, 3–5, 5–7. Klingt brutal, war aber magisch. Dick eingepackt wanderte ich nachts durch die Stille – manchmal bei schönstem Sonnenschein. 3–4 km Achtsamkeit, Naturkino, Bärenchecks. Ich fühlte mich wie eine Mischung aus Pfadfinderin und Nachtwächterin – verantwortlich für die schnarchende Crew. Und ehrlich: Ich mochte es.
Fazit:
Lagerleben ist nichts für Zimperliche – aber ziemlich großartig. Ich kam als skeptische Städterin und ging mit einer Vorliebe für Tarps, nächtliche Einsamkeit und dem besten Kloausblick meines Lebens.
Frühstück Wasserbeutel und Rentier – wer sieht´s? Das stille Örtchen Nachts um halb eins
Gestern wollte ich nur eins – heim: zu kalt, zu nass, zu matschig – irgendwo zwischen Expeditionsfrust und nassen Socken hatte ich mein persönliches Stimmungstief erreicht.
Aber heute ist heute: Die morgendliche Sicht aus meinen Zelt ist blau und freundlich, die Stimmung kippt – diesmal nach oben. Ich mag die Menschen um mich herum, mein Schlafsack ist halbwegs trocken, und ich habe endlich aufgehört, innerlich zu motzen. Die Landschaft tat ihr Übriges: wunderschön, wild und still.
Wir wandern zu unserem letzten Zeltplatz, wo wir für zwei Nächte bleiben. Ziel: ein unscheinbarer Ort „am Wald“. Klingt für Spitzbergen falsch – ist es aber ganz und gar nicht. Dieser Wald ist nämlich 380 Millionen Jahre alt. Richtig gelesen. Drei-acht-null. Millionen.
Zwischen Steinen und Geröll finden wir versteinerte Baumstämme, fein gezeichnete Rindenstrukturen, kleine Äste und sogar zarte Blätter, zumindest stelle ich es mir so vor. Alles konserviert wie in einer Zeitkapsel. Es ist, als würde der Boden unter unseren Füßen Geschichten flüstern. Statt Ausruhen im Zelt: abendliche Fossilienjagd.
Der versteinerte tropische Wald wurde übrigens 2015 von Paläontologen der Unis Cardiff und Southampton entdeckt. Und tropisch, weil Spitzbergen vor knapp 400 Mio. Jahren am Äquator lag.
Und ich? Ich war plötzlich ganz da. Angekommen. Nicht nur im Zelt, sondern in diesem Trip. Und ein kleines bisschen auch bei mir selbst.
Es fühlt sich an wie Fasten. Der zweite Tag ist bekanntlich der schlimmste – und dieser hier macht seinem Ruf alle Ehre.
Nieselregen. Wind. Und eine Landschaft, die plötzlich ihr wahres Gesicht zeigt: Schluss mit lieblich, willkommen in der Stein- und Schlammhölle. Überall Geröll, Felsplatten, Schotter und matschiger Boden, der mehr an Tolkien als an Tundra erinnert. Susanne sagt: „Mordor.“ Ich stimme innerlich zu – nur mit weniger epischem Soundtrack.
Und dann passiert’s: Der Schlamm wird mein Endgegner. Mit 16 Kilo auf dem Rücken sinke ich bis zu den Knöcheln ein – und komme alleine nicht mehr raus. Die Arktis zieht mich runter, ganz wörtlich. Minna eilt zur Hilfe, zieht mich raus wie eine Heldin im Schlamm – und was mache ich? Ich beschimpfe sie. Wüst. Völlig grundlos. Rückblickend: peinlich. In dem Moment: schlicht überfordert.
Die nächtliche Bärenwache raubt mir dann noch den letzten Rest an Schlaf – und an guter Laune. Ich sitze da, in der Kälte, den Schlafsack noch halb im Gesicht, das Fernglas im Anschlag und frage mich nur:
Mit offenen Booten geht’s los – eingepackt in knallige Überlebensanzüge, irgendwo zwischen Michelin-Männchen und Actionheld. Und ja: Es fühlt sich ziemlich cool an. Etwa eineinhalb Stunden schippern wir durchs eiskalte Wasser, vorbei an arktischer Küste. Unser Ziel: eine kleine Bucht fernab jeglicher Zivilisation.
Spuren menschlichen Lebens sind dennoch da – wenn auch nur noch Fragmente: eine verlassene Jagdhütte. Rund 500 Meter weiter: das Skelett eines alten Bootswracks, wie zufällig in die Landschaft geworfen. Irgendwann, so erzählt man sich, habe es hier sogar den Versuch gegeben, Anhydrid zu fördern. Die Wildnis hatte offenbar andere Pläne.
Was uns erwartet, ist überraschend sanft: ein liebliches Tal, eingebettet in dramatische Canyonberge. Überall kleine, zähe Blumen, Rentiergeweihe wie aus einem Katalog für nordische Mythen, und leuchtend grüne Moospolster, die wirken, als hätte jemand mit einem Textmarker durch die Tundra gemalt.
Nach rund neun Kilometern erreichen wir unseren ersten Lagerplatz. Der Aufstieg dorthin – kurz, aber steil, steinig und mit schwerem Gepäck ein echtes Brett – ist zum Glück schnell vergessen. Der Blick zurück, das Zelt inmitten der Einsamkeit, der kühle Wind – alles fühlt sich plötzlich richtig an.
Im HafenHauptsache warm …..GelandetUnsere erste Nacht outdoorDie erste Nachtwache
Ich war ziemlich optimistisch unterwegs: Zu Hause zeigte die Waage 12 Kilo für meinen Rucksack – das schien mir für Tagesetappen von rund 10 Kilometern absolut vertretbar. Die genauen Maßangaben von Kimmo im Vorbereitungs-Zoom hätten mich vielleicht nachdenklich machen sollen. Taten sie aber nicht.
Was noch fehlte: Frühstück, Mittag- und Abendessen in Trockennahrung, Thermosbecher, Gaskartusche, Kocher, Tarp – und das alles wollte irgendwie noch ins Gepäck.
Und die 35 Grad beim Packen in Deutschland hatten meinen Realitätssinn zusätzlich etwas getrübt. Und weil es in der nördlichsten Stadt der Welt verdammt gute (und viele!) Outdoorläden gibt, habe ich vor Ort noch ein dickes Fleece und ein paar zusätzliche Merino-Shirts „zur Sicherheit“ eingepackt. Ergebnis: 16,5 Kilo.
In leicht panischer Erkenntnis, dass ich dieses Gewicht vielleicht nicht dauerhaft schultern kann, habe ich dann heldenhaft meine Tüten mit Mandeln und Datteln im Coal Miners zurückgelassen.
Ehrlich? Dafür habe ich mich später bei diversen nächtlichen Bärenwachen mehrfach verflucht.
PS: Großer Dank an Susanne, die mir Kocher und Tarp abgenommen hat. Ohne sie hätte ich vermutlich auch noch mein Müsli geopfert.
Das muss noch mit!Wer hat den schwersten Rucksack? Kurz vor der Abfahrt sind wir alle skeptisch.Geht ja … irgendwie…Alles muss mit! Bei 16 Kilo braucht man öfters eine ……Pause.